Kleine Morde

Wir töten sie bedenkenlos. Einfach so. Dabei sind uns die Insekten weit überlegen. Ihre Sinnesleistungen sind atemberaubend. Sie fliegen - proportional - schneller als ein Kampfjet. Sie haben alle Lebensräume der Erde erobert. Und ihr Staatswesen funktioniert reibungslos.

Die Aufrüstung hat einen Namen: Sudden Death. Der Edelstahlgriff des Instruments ist teleskopisch ausziehbar, der Schlagteller spülmaschinenfest. "Eine Hochleistungspräzisionswaffe", schwärmt der Hersteller. Andere würden es schlicht eine Fliegenklatsche nennen.

Um das einst schlichte Werkzeug häuslicher Insektenabwehr ist ein harter Wettbewerb entbrannt. Wem der Stahl zu kalt in der Hand liegt, der bevorzugt vielleicht den gedrechselten Holzgriff eines Modells aus französischer Manufaktur, das der Hersteller als "robustes Jagdinstrument" anpreist. Ästheten könnte das Modell Dr. Skud aus dem Atelier von Stardesigner Philippe Starck überzeugen, gefertigt aus thermoplastischem Harz in sechs modischen Farben. Für die anspruchsvolle Jagd in der Luft bietet sich hingegen die e-Klatsche an. Das Instrument in Form eines Badminton-Schlägers soll Insekten per Stromschlag beseitigen. Der Vertrieb schwärmt von der "sportlichen Herausforderung" und versichert, auch große Exemplare würden betäubt und könnten bequem entsorgt werden.

Die Deutschen geben viel Geld aus, um sich Insekten vom Leib zu halten. Für 29 Millionen Euro jährlich schmieren sie sich Autan oder Dschungelmilch auf die Haut und hoffen, möglichst abschreckend zu riechen. Der Abwehrmarkt ist zwischen 2001 und 2003 um 40 Prozent gewachsen. In tödliche Waffen wie Elektroverdampfer, Sprays oder Köder investieren private Haushalte jährlich 60 Millionen Euro, mehr als die Hälfte davon im Kampf gegen fliegende Quälgeister.

Doch machen wir uns nichts vor. Es gibt kein Entrinnen. Sie sind überall. Sie haben jeden Winkel der Erde erobert. Schon ihre schiere Zahl übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Ihre Staatswesen funktionieren reibungslos, ihre Kriege perfekt. Ihre Hierarchien sind wohlgeordnet, die Aufgaben klug verteilt. Jeder von ihnen ist ein Perfektionist. Ihre Industrie floriert.

Die Gesamtzahl der Insekten hat nach ihrem ersten Auftreten zu jedem Zeitpunkt der Erdgeschichte, den gegenwärtigen Moment eingeschlossen, etwa zehn Trillionen (oder 10 000 000 000 000 000 000) betragen, zehn Trillionen krabbelnde, fliegende Konkurrenten. (Nein, die Zahl ist nicht übertrieben! Schon ein einziges Termitennest kann mehr als eine Millionen Individuen beherbergen. Heuschreckenschwärme bestehen aus bis zu einer Milliarde Einzeltieren.) Die Schwersten unter ihnen - wie der Herkuleskäfer - wiegen 30 Gramm. Die Leichtesten bringen weniger als ein zehntausendstel Gramm auf die Waage.

WO IMMER DER MENSCH neue Landstriche besiedelte, er trat, wie es die Entomologin May Berenbaum formuliert, in die Fußstapfen der Sechsfüßler. Insekten leben in Schneespalten und heißen Quellen. Sie besiedeln die Lachen auf den Ölfeldern des Nahen Ostens und die leichengefüllten Formaldehydtanks des gerichtsmedizinischen Instituts im Nachbarort. Sie haben Berggipfel erklommen und sind kilometertiefe Bergwerksschächte hinabgestiegen.

So beeindruckend ihre Leistungen sind, den meisten Menschen sind Insekten schlicht unsympathisch. Nicht mal Tierschützer stellen die Frage, ob Kakerlaken Schmerz empfinden. Biologiestudenten pflegen die Tierchen in einer Sezierschale mit Stecknadeln zu fixieren. Kopf und Beine werden abgetrennt, die Eingeweide entfernt - mit Ausnahme des Herzens, das mit Nikotin und anderen Substanzen stimuliert wird, bis es schließlich aufhört zu schlagen. Viel bleibt bei dieser Präparation wahrlich nicht übrig. Aber das, was übrig bleibt, versucht hektisch davonzuzappeln. Das treibt selbst manchen angehenden Biologen in die Flucht.

Fast alle Menschen leiden im Laufe ihrer Kindheit irgendwann einmal unter Entomophobie. Schon der Anblick eines Insekts lässt die Nervenzellen in ihren Gehirnen Alarm auslösen, noch bevor sie erkannt haben, was da eigentlich kriecht. Hormone werden ausgeschüttet und versetzen den Körper in Alarmbereitschaft, der Puls wird schneller, Panik macht sich breit.

Später siegt bei manchem der Forscherdrang. Am Rande einer Party findet sich immer jemand, der bereitwillig zugibt, als Kind einmal Fliegenflügel ausgerissen oder Ameisen mit dem Brennglas abgefackelt zu haben. Das gilt als Ausdruck gesunder Neugier. Doch immerhin drei Prozent der Erwachsenen bleibt die krankhafte Abneigung. Sie wittern Ungeziefer, wo keines ist, steigern sich bis zum Dermatozoenwahn. Die Fachliteratur sammelt unermüdlich unzählige Fallbeispiele, seit der schwedische Neurologe Karl A. Ekbom das Phänomen 1938 in seinem Aufsatz Der präsenile Dermatozoenwahn erstmals beschrieb. Der Wahn trifft Frauen öfter als Männer, doch anders als die Phobie tritt er nur bei Erwachsenen auf.

WER UNTER DEM WAHN leidet, kennt im Krieg mit dem Getier keine Grenzen. Die einen baden in Benzin oder WC-Reiniger, andere kratzen sich blutig, greifen zu Rasierklingen und Messern. "Ich traf ihn mit nacktem Oberkörper und einem Verband auf dem Rücken an. Er hatte geglaubt, eine Wanze oder irgendein anderes Tier auf dem Rücken zu spüren - in Wirklichkeit war es ein Pickel oder eine Warze -, und sich mit der Rasierklinge den Rücken aufgeschnitten und geblutet wie ein Irrer. Das alles wegen einer eingebildeten Wanze." So beschreibt der Filmregisseur Luis Buñuel seinen Besuch im Hotel von Salvador Dalí auf dem Montmartre in Paris. Besonders dominante Persönlichkeiten neigen angeblich zu Insektenphobie. Alles schwer Kontrollierbare macht ihnen Angst.

Es ist wahr. Sie bringen Pest und Malaria, Gelbfieber und die Schlafkrankheit. Ihre Larven nisten in den Mägen, Eingeweiden, Nasenhöhlen oder unter der Haut von Tieren. Praktisch alle Säugetierarten werden von parasitierenden Insekten heimgesucht. Verschont bleiben nur Wale, Seekühe und Schuppentiere. Insektenstiche lassen Menschen erblinden und impfen ihnen gefährliche Krankheitserreger unter die Haut. Alle 30 Sekunden stirbt ein Mensch an der Folge eines Stichs. Einige Evolutionsforscher glauben, der einzigartige, den restlichen Fingern entgegengestellte Daumen des Menschen habe sich nur entwickelt, um das Getier zu erdrücken.

Vergebens, Insekten sind eine globale Macht. Sie beeinflussen das Klima: Eine einzelne Termite produziert in ihrem Darm pro Tag zwischen 0,24 und 0,59 Mikrogramm Methan. 200 Billiarden Termiten rücken in diesem Augenblick unerbittlich den weltweiten Holzbeständen zu Leibe. So wird geschätzt, dass furzende Termiten bis zu 30 Prozent des gesamten Methangehalts der Atmosphäre erzeugen.

Insekten sichern unsere Ernährung: Etwa ein Drittel unser Nahrung steht uns nur deshalb zur Verfügung, weil Insekten Pflanzen befruchten. Aber auch sie selbst sind nahrhaft. Die Welternährungsorganisation FAO empfahl Anfang November hungernden Afrikanern, mehr Insekten zu essen. 100 Gramm getrocknete Raupen lieferten 430 Kilokalorien und deckten den Tagesbedarf eines Menschen an Mineralien und Vitaminen.

Auch die Fortpflanzungsforschung liefert beachtliche Zahlen: Ein einziges Paar Stubenfliegen könnte zwischen Mitte April und Mitte September so viele Nachkommen hervorbringen, dass Deutschland unter einer zwei Meter hohen Schicht begraben würde.

Fazit: Sie sind unsittlich, unersättlich, unverschämt. Mit einem Wort: faszinierend. Wie anders ist es zu erklären, dass israelische Forscher kürzlich einen Hindernisparcours extra für Küchenschaben anlegten? Bis zu 25-mal in der Sekunde mussten die Schaben an der Hebrew University in Jerusalem die Richtung wechseln. Für die nachtaktiven Kerbtiere kein Problem, und das bei einer Geschwindigkeit von einem Meter pro Sekunde.

MEHR DATEN? Bitte schön: Die Zahl der Zirpgeräusche der Baumgrille Oecanthus fultoni pro 15-Sekunden-Intervall, plus 37, entspricht exakt der herrschenden Außentemperatur in Grad Fahrenheit.

Für ein Kilo Honig sind etwa 130 000 Nektarladungen notwendig. Dafür müssen die Bienen etwa 10 Millionen Blüten aufsuchen. Fleißige Tierchen? Weit gefehlt. Der deutsche Biologe Martin Lindauer fand heraus, dass die Tiere bis zu 70 Prozent ihrer Zeit nichts anderes tun, als sinnlos im Stock herumzulungern.

Das lautstarke Liebeswerben der Zuckerkäfer kann über zwölf Stunden und länger anhalten. Dabei bedienen sich Männchen wie Weibchen eines Repertoires von 14 verschiedenen Signalen. Der Liebesakt selbst ist lautlos und dauert nur zehn bis dreißig Minuten.

Die Käfer erzeugen die Geräusche durch die Reibung von Flügeldecke und Hinterleib. Andere Insekten klopfen auf Holz. So schlägt die Totenuhr (Xestobium rufovillosum) ihren Kopf gegen Balken. So mancher, der das Pochen hörte, glaubte, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Tatsächlich bringen Insekten den Tod: Im Jahr 1812 dezimierten Kleiderläuse, die den Erreger des Fleckfiebers übertrugen, das Heer Napoleons auf dem Weg nach Moskau um 80 000 Mann. Mit 3000 der ursprünglichen halben Million Soldaten kehrte der Feldherr am Ende aus der Stadt zurück.

Die Bedrohung ist gegenwärtig. Seit Anfang August wird der Nordwesten Afrikas von einer Heuschreckenplage heimgesucht. Ein Schwarm vernichtet an einem einzigen Tag die Nahrung von 2500 Menschen, auf einen Quadratkilometer kommen dabei etwa 15 Millionen Heuschrecken.

Kein Wunder, dass angesichts solcher Schreckenszahlen allzu oft vergessen wird, dass Insekten wichtige kulturelle Leistungen der Menschheit inspirierten. Die Lauerstellung der Fangschrecke Tenodera aridifolia sinensis gab vor 400 Jahren den Anstoß zur Erfindung des Kung-Fu. Die Ausscheidungen der Lackschildlaus Laccifer lacca haben nicht nur das Rohmaterial für die Schellackplatte geliefert, sondern werden bis heute in Möbelpolituren oder Schokoladenglasuren verarbeitet. Auch Künstler faszinierte die bunte Insektenwelt. Einige Maler des 14. und 15. Jahrhunderts, wie der niederländische Meister Petrus Christus, hatten ihre Freude daran, den Betrachter mit täuschend echt gemalten Fliegen - meist auf einer Porträtdarstellung - zu narren.

Mensch und Insekt bilden seit je eine biologische, aber auch kulturelle Schicksalsgemeinschaft. In Zentralaustralien findet man kleine Volksgruppen, die in Insekten ihre wiedergeborenen Urahnen erkennen. Das griechische Wort psyche bedeutet sowohl Seele als auch Schmetterling. Und im Mittelalter schmückten Bienen, Käfer, Heuschrecken und Schmetterlinge die Wappen von Ritterstand und Adel.

Mythologie, Wissenschaft, Kunst - Insekten lassen das scheinbar Entfernte zusammenrücken: der Mythologe ein Naturforscher, der Künstler ein Alchemist, der Forscher ein staunendes Kind. Es ist die Vielfalt der Insekten, die sie in den Bann schlägt, ihre Erscheinungsformen, ihre Überlebensstrategien. Selten sind Ekel und Ästhetik, Furcht und Faszination so innig vereint.

INSEKTEN LEBEN VOR, was der amerikanische Psychologe und Biochemiker Howard Bloom die "Evolution sozialer Intelligenz" nennt. Bienenvölker und Ameisenstaaten - ein Vorbild für menschliche Gesellschaften? "Obwohl sich Wirbeltiere und Insekten stammesgeschichtlich sehr fern stehen und obgleich sich ihre individuellen und kollektiven Kommunikationssysteme grundlegend voneinander unterscheiden, haben diese beiden Tiergruppen Verhaltensweisen entwickelt, die sich in ihrem Komplexitätsgrad gleichen und in vielen bedeutenden Einzelheiten konvergent sind", betont der amerikanische Soziobiologe Edward O. Wilson.

Warum also nicht von Ameisen oder Bienen lernen? Die Fellows des Berliner Wissenschaftskollegs haben sich das für nächstes Jahr vorgenommen. Kevin Foster von der amerikanischen Rice-University will in Berlin mit zwei Kollegen untersuchen, wie unter Insekten Konflikte ausgetragen werden. Finger weg von der Fliegenklatsche!

INFO INSEKTEN

Vier von fünf Lebewesen auf diesem Planeten - zugegeben, die Bakterien sind nicht mitgerechnet - besitzen im Laufe ihres Lebens einmal drei, und zwar genau drei Beinpaare. Sie sind Insekten. Bis heute sind mehr als 850 000 Arten entdeckt, kategorisiert, katalogisiert.Doch die Mehrheit von ihnen vegetiert noch immer namenlos dahin: Zwei Millionen Arten dürfen die Forscher gewiss noch taufen. Ganz optimistische Insektenkundler nennen gar die Zahl von 30 Millionen möglichen Neuentdeckungen - Arbeit für Jahrhunderte. Die artenreichste Ordnung in der Klasse der Insekten sind die Käfer. Sie stellen gleich 370 000 der bekannten Arten. Fliegen und Mücken kommen zusammen auf 120 000 verschiedene Spezies. Die Hautflügler, unter ihnen Bienen, Ameisen und Wespen, bringen es immerhin noch auf 102 000 bekannte Arten. Insekten sind leicht zu erkennen. Ihr Körper ist in drei Abschnitte geteilt: Kopf, Thorax und Abdomen. Der auffälligen Körpergliederung verdanken die Insekten ihren biologischen Namen. Das lateinische Wort "insecta" bedeutet "eingeschnitten".

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